The German Werteindex blog has published an interview with me (in two parts, in German) about values-based-based leadership and how marketers can act as “chief meaning officers” to fight the disentchantment of business.
Part 1
Herr Leberecht, Sie bezeichnen ein “meaning surplus”als grundlegend für zukünftige Markenloyalität. Und während sich unser gesamtes Wirtschaftssystem im Umbruch befindet, rufen sie gerade Marketer dazu auf, diesen Prozess des Wandeln federführend zu gestalten – als Interface zwischen Kunden und Unternehmen. Was ist das Neue an der Idee von “Meaning”? Inwiefern unterscheidet sich dieses Meaning von anderen emotionalen Markenbotschaften?
Ich sehe “Meaning” als ein vorgelagertes oder weitergreifendes Konzept. Emotionale Markenbotschaften sind Instrumente zur Verbreitung von Meaning. Aber die Botschaft ist nicht die Marke. Erfolgreiche emotionale Markenbotschaften berühren den Konsumenten nur dann, wenn der Markenkern für ihn von Bedeutung (“Meaning”) ist. Die unmittelbare Erfahrung der Marke kann (und sollte, im Idealfall) emotional sein, aber der Markenkern – die Werte, die die Marke verkörpert und der Sinn, den sie stiftet – sind eher langfristiger und übergeordneter Natur. Die beiden Ebenen sind interdependent: Emotionale Momente in der Markenerfahrung verstärken die spirituelle Grundbindung an die Marke, und die bisweilen religiöse Bindung zur Marke (siehe Apple) manifestiert und festigt sich in emotionalen Marken-Momenten.
Aber das Neue am Meaning-Konzept ist nicht der Wertekatalog der Marke. Wirtschaft ist per definitionem kein wertefreier Raum (niemand wusste dies besser als der Moralphilosoph Adam Smith, der ja bezeichnenderweise vor Wealth of Nations eine moralphilosophische Schrift mit dem Title Theory of Moral Sentiments veröffentlichte). Schon immer haben Werte die Entscheidungen von Unternehmen und Organisationen geprägt: vom nach innen gewandten Arbeitsethos – wie arbeiten wir miteinander und behandeln wir unsere Mitarbeiter? – zum nach aussen gewandten moralischen Kodex – wie gehen wir mit unseren Stakeholdern um, und welche Werte liegen unseren Produkten und Dienstleistungen zugrunde? Seitdem zahlreiche Studien aufzeigten, dass Konsumenten “moralische” Marken bevorzugen, haben Unternehmen verinnerlicht, dass die Triple-Bottom-Line-Ausrichtung einen echten Wettbewerbsvorteil darstellt (“doing well by doing good”) und durch Modelle wie CSR (Corporate Social Responsibility) und zuletzt Values-Based Management Werte externalisiert und ethisches Handeln zunehmend als strategischen Erfolgsfaktor in ihr operatives Geschäft integriert. Noch einen Schritt weiter geht der stark wachsende Bereich der Social Enterpreneurship: for-profit Firmen, deren Geschäftsmodell einzig und allein auf der Schaffung sozialen Mehrwerts basiert. Schon jetzt sind 10% aller europäischen Firmen Social Enterprises (mit insgesamt 11 Millionen Angestellten), und die Europäische Union hat gerade eine neue Social Business Policy erlassen, die diesen Sektor weiter stärken wird.
Was das Chief Meaning Officer-Konzept von all diesen Paradigmen unterscheidet, ist, dass es das Unternehmen – und hier Marketing als die treibende Kraft – als den Urheber von “Bedeutung” begreift, der aktiv Moral schafft, und zwar nicht nur als Grundlage und Checkpoint für die Moralität des Geschäftsgebarens, sondern als vorrangiges, philosophisches Ziel der gesamten Unternehmung, jenseits von CSR und Social Enterpreneurship: “The job of leadership today is not just to make money. It is to make meaning”, schreibt der US-Autor und Consultant John Hagel. Meaning ist nicht auf die soziale Verantwortung eines Unternehmens begrenzt, sondern reicht weiter und meint die Produktion von Bedeutung. Diese kann sich in einer intellektuellen, emotionalen, spirituellen oder ethischen Kategorie manifestieren, oder idealerweise in allen gleichzeitig. Unternehmen sind nicht nur ein moralischer Kompass für Konsumbürger und bieten Orientierung; Meaning Officers produzieren selber Moral und stiften Sinn. Sie setzen auf intrinsische Motivation und erweitern die Maslow’sche Pyramide um Meaning – um eine transzendente Erfahrung, die über materielle Bedürfnisse und die Selbstverwirklichung hinausgeht.
Wie können Meaning Officers das bewerkstelligen?
Dies kann durch umweltfreundliches Handeln geschehen, durch das Wahrnehmen von Verantwortung in der örtlichen Kommune oder die Achtung von Menschenrechten, aber eben auch durch individuelle Sinnstiftungen abseits der großen CSR-Themen, wie z.B. die Schaffung von kleinen Ritualen. Ein bisschen ist das wie Religion for Atheists, um den Titel des jüngst erschienenen Buches des britischen Philosophen Alain de Botton zu zitieren, der eine Art Gebrauchsanleitung zur praktischen Re-Spiritualisierung unserer säkularisierten westlichen Gesellschaft verfasst hat. Chief Meaning Officers kämpfen gegen die “Entzauberung” der Wirtschaft, gegen die Diktatur von ROI und Excel-Tabellen, und gegen Marketing als objektive Wissenschaft. Sie bringen die Kultur zurück in die Technokratie, verbreiten Ambiguität und Geheimnis in einer weitgehend prozessbestimmten, zweckorientierten Arena, und schaffen Erfahrungen von Intimität und Exklusivität in aller Öffentlichkeit.
Diese neue Art von Leadership gewinnt an Bedeutung vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse – von Lehmann Brothers zur Euro-Krise, dem Arabischen Frühling zu Occupy Wall Street. Wir erleben den Autoritäts- und Vertrauensverlust der traditionellen Institutionen und eine fundamentale Legitimitätserosion des Kapitalismus, und beides sind letztlich moralische Krisen. Konsumenten und Bürger erwarten mehr von der Wirtschaft, aber nicht nur im Sinne von praktizierter Umwelt- und Sozialverantwortung, von “guten” Produkten und moralischer Orientierung. Es geht um die Transformation von Wirtschaft an und für sich, um die ‘raison d’etre’ von Unternehmen, um die “Moral von der Geschichte”. Und da legen es die jüngsten politisch-ökonomischen Entwicklungen nahe, ein radikaleres Umdenken zu fordern. Was ist, wenn der Sinn des Wirtschaftens in der Sinnstiftung liegt? Oder aus der Marketing-Perspektive: Machen Marken nur dann Sinn, wenn sie Sinn machen? Der amerikanische Ökonom Robert C. Solomon argumentiert in seinem Buch A Better Way to Think About Business – How Values Become Virtues, dass das Marktsystem sich nicht durch Effizienz oder Profit rechtfertigen lässt, sondern nur dadurch, dass Menschen vor allem soziale und emotionale Wesen sind. Märkte bieten ihnen einen Mechanismus, eine “sympathetic community”, wie er das nennt, zum sozialen Austausch.
Wer in diesen Communities, diesen Netzwerken, florieren will, muss eine eigene, identifizierbare Kultur pflegen und jede Menge Sozialkapital mit einbringen. Marketing – ganz im Sinne des in jeglicher Hinsicht prophetischen Cluetrain Manifestos von 2001 – ist daher immer eine kulturelle Leistung, ein Diskurs. Chief Meaning Officers sind die Feuilletonisten der Wirtschaft. Sie schaffen die Soft Power, die den langfristigen Erfolg des Unternehmens gewährleistet. Das mag sich in der Tat “soft” anhören, aber in der Network Economy, mit ihrer zunehmenden Komplexität von Beziehungsgeflechten zwischen Konsumenten, Produzenten, Konkurrenten und Partnern, sind Sozialkapital und soziale Intelligenz zu entscheidenden Erfolgskriterien geworden.
Inwiefern sind auch Werbe- und Kommunikationsagenturen gefordert, “Meaning Agencies” zu werden? Was machen Agenturen heute schon richtig? Was machen die meisten noch immer falsch?
Viele machen vieles richtig. Die Branche ist viel smarter als ihr Ruf, und vordergründige pseudo-soziale Kampagnen wie Pepsi’s Refresh Project sind eher seltene Ausrutscher. Wie Wieden + Kennedy für Nike authentische Sub-Kulturen begriffen und behauptet hat, verdient höchste Anerkennung. Toll ist auch die Dachis Group, die den Begriff des Social Business konsequent auf alle Bereiche des Unternehmens augedehnt und eine einflussreiche Plattform aufgebaut hat, die unter anderem den Social Business Index und zahlreiche wegweisende Veröffentlichungen beinhaltet. Oder die Ads Worth Spreading Kampagne von TED (“ads so good you choose to watch!”).
Werbe – und Kommunikationsagenturen sind, glaube ich, insgesamt einen Schritt voraus und haben “Meaning Production” schon lange zu ihrer Domäne gemacht. Allerdings bleiben Agenturen aufgrund ihres beschränkten Einflusses letztlich nur Impulsgeber; die Hauptverantwortung liegt bei den Inhouse Marketing Departments – und die tun sich schwer, von traditionellen Marketing-Konventionen abzurücken, weil in der Konzernzentrale oft der Mut zum innovativen “meaningful marketing” fehlt und ihnen daher das Mandat zum umfassenden Change Management versagt bleibt.
Wo sind die größten Hemmschwellen auf dem Weg zum “Chief Meaning Officer“?
Die größten Hürden für den Meaning Officer sind jedenfalls intern. Da stoßen Meaning Officer naturgemäß auf jede Menge Skepsis, und es ist nicht immer einfach, den Zynismus der eigenen Mitarbeiter, die Kluft zwischen den Glaubensbekenntnissen der Geschäftsleitung und der tatsächlichen Kultur des Unternehmens, zu überwinden. Ein Bekenntnis zum Anderssein, kreative Risikofreudigkeit, der Mut zu sozialem Marketing und der Drang zum Experimentieren sind die Charakteristika des Chief Meaning Officers. Wie Marketing-Guru Seth Godin so schön treffend formuliert: ‚Wer sich nicht der Gefahr aussetzt, wegen seiner Idee gefeuert zu werden, dessen Idee ist nicht wirklich originell.‘ Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber Marketer müssen endlich aus der Defensive heraus und selbstbewusster ihre Philosophie vertreten – und anstelle des ständigen Nachweises des Wertes von Marketing neue Werte definieren, einfordern und schaffen.
Part 2
Herr Leberecht, Sie fordern Unternehmen auf, mehr meaning zu produzieren statt neuer Produkte. Den Marketer sehen Sie als zentrales Interface zwischen Kunden und Unternehmen, der den Prozess der meaning production führt.
Haben Marketer überhaupt ausreichend Einfluss auf die Praxis ihrer Unternehmen in Bereichen außerhalb der Marketing-Abteilung?
Die Irrelevanz-Falle ist allgegenwärtig, aber inwieweit man reintappt hängt vom Selbstverständnis des Marketers ab. Marketing wird ja oft fälschlicherweise als Cost Center gebrandmarkt, als Luxus-Funktion für gute Zeiten, dabei ist es ein kritischer Erfolgsfaktor (wir wissen von zahlreichen Studien, dass der Erfolg oder das Scheitern von Unternehmen stark vom Marketing abhängt) und im Idealfall eine der wenigen Funktionen, die eine ganzheitliche Sicht auf das Unternehmen haben. Das sollten sich Marketers zu nutze machen. Sie sollten Beziehungen aufbauen zu anderen Funktionen und auf (Marken)Kontrolle verzichten, um somit mehr Einfluss auszuüben.
Das einflussreichste Marketing ist Marketing ohne Marketing: Marketing, das sich mehr als ein Netzwerk versteht als eine Funktion. Ich sage meinem Team immer, dass wir unser Ziel nicht erreicht haben, wenn unsere Funktion unternehmensweit an Macht gewinnt, sondern wenn das ganze Unternehmen zur Marketingorganisation geworden ist und wie ein Marketer denkt und fühlt.
Was zeichnet Unternehmen aus, in denen Marketer erfolgreich ganzheitlich gestalten können?
Erfolgreiche CMOs wie Beth Comstock bei GE sind für Geschäftsfeldbestimmung, Produktentwicklung und strategische Wachstumsinitiativen verantwortlich, in enger Zusammenarbeit mit den Business Units. Wie es Comstock vorgemacht hat, sollte Marketing nahe beim Kunden sein, eine langfristige Sicht einnehmen (und sich darin deutlich von Vertrieb/Sales unterscheiden) und als ein Change Agent agieren. Dies trifft insbesondere auf den Bereich Digitale Transformation zu: Ein jüngste Studie von Cap Gemini/MIT besagt, das zwei Drittel aller globalen Konzerne mit der Transformation zum digitalen Unternehmen erhebliche Schwierigkeiten haben. Das Thema Enterprise 2.0 – also der Einzug sozialer Medien in den IT-Mainstream und die Auswirkungen sozialer Technologien im allgemeinen – bereiten Chef-Etagen erhebliche Kopfzerbrechen. Wie Business zu Social Business wird, und nicht nur im Sinne von Social Responsibility, sondern viel weitreichender, im Sinne einer kompletten Neu-Definierung von Wertschöpfung – durch Ko-Kreation mit dem Kunden, Crowdsourcing, radikale Transparenz, usw. – diesen Wandel können Marketer als Meaning Officers entscheidend mit antreiben.
Unterliegen nicht auch Werte und Sinnstiftungen der Gefahr, austauschbar zu werden? Z. B. Umweltbewusstsein ist schon längst kein USP mehr. Welche kritischen Erfolgsfaktoren gibt es ist in der Positionierung von Werten und “Meaning” zu beachten?
Meaning hat kein Verfallsdatum. Die Produktion von Bedeutung kann nicht austauschbar werden, weil sie eigentlich immer austauschbar ist. Es ist ein Template. Mit anderen Worten: Was zählt, ist die Erfahrung, der Moment des Sinnstiftens an sich, das “Unterschiedmachen”. Mit welchen Werten und Ideen das im einzelnen geschieht, sollte jedes Unternehmen für sich entscheiden. Apple steht für die Humanisierung von Technologie, IBM für die globalisierte Nutzung von Technologie im Dienste eines “Smart Planets”, Coca-Cola für Happiness und so weiter. Marken müssen ihre These finden und dann jene Argumente im kollektiven Bewusstsein verorten, die ihnen recht geben.
Aber über diese allgemeinen Markenassoziationen hinaus: Wie produziert man Bedeutung? Was macht Bedeutung aus? Vereinfacht gesagt, sind das, denke ich, vier Komponenten: Disruption, Seltenheit, Soziabilität und Transzendenz. Disruption bedeutet die Abweichung von der Routine, die Verletzung einer „mental map“, eines standardisierten kognitiven Modells. Zum Beispiel: Das iPhone stellte die mental maps von Computer und Telefon in Frage und verband beide zu etwas Ungesehenem, einer neuen Kategorie, die eine „dritte Bedeutung“ schuf.
Sehgewohnheiten und kognitive Muster brechen – so funktioniert Werbung. Meaning braucht daher noch weitere Dimensionen. Nehmen Sie das Beispiel der deutschen Nationalmannschaft: Hört sich trivial an, aber was würde den EM-Sieg des Teams bedeutungsvoll machen? Nun, zum einen, Seltenheit. Die deutsche Elf hat schon seit 1990 keinen internationales Turnier mehr gewonnen. Meaning ist umgekehrt proportional zum Auftreten von bedeutenden Ereignissen.
Und der Seltenheitswert eines Ereignisses potenziert sich, wenn er teilbar wird, d.h. ein soziales Moment hat. Dies kann auf vier Arten geschehen: durch die Möglichkeit, an Bedeutung teilzuhaben und sie aktiv mitzugestalten; durch das Teilen einer bedeutenden Erfahrung mit anderen (Bedeutung entsteht immer im Austausch mit anderen, ist ein soziales Phänomen – siehe „Fanmeile“); durch Großzügigkeit (wenn man mehr gibt als nimmt, entsteht ein Bedeutungsexzess, ein “meaning surplus”); und durch den sozialen Mehrwert, den Beitrag zur Gesellschaft, zum allgemeinen Wohl oder dem von benachteiligten sozialen Gruppierungen.
Letzteres führt zum Kriterium der Transzendenz: Es kann ein gesellschaftliches Ziel sein, das das individuelle Ereignis überhöht, eine Ideologie, oder eine abstrakte, universale Wahrheit. Bedeutende Erlebnisse deuten immer auf eine übergreifende Vision, eine „dritte Bedeutung” hin. Sie stehen nie nur für sich selbst. Warum wird eine Fussball-WM zum “Sommermärchen” und ein Team zum „Weltmeister der Herzen“? Das ist ja kein reiner PR-Spin, sondern eine echte emotionale Bewegung. Das konnte man auch bei Steve Jobs Tod sehen, als die kollektive Trauer fast schon ekstatische Züge annahm, oder in Obamas vieldiskutierter Präsidentschaftskampagne von 2008, in der sich Hunderttausende von jungen Amerikanern engagierten, weil sie von der Vision von “Hope” – von der Machbarkeit echten Wandels – inspiriert waren. Oder zuletzt Occupy Wall Street. Es gibt einfach diese Momente, die eine tiefe innere Wahrheit in uns bloßlegen.
Chief Meaning Officers behalten alle diese Faktoren – Disruption, Seltenheit, Soziabilität und Transzendenz – bei ihren Aktivitäten immer im Auge. Aber ein fünfter fehlt noch: Echtheit. Nur wenn die Intentionen des Unternehmens ehrlich sind, wird die Authentizität der Marke fühlbar. Ansonsten ist Meaning bedeutungslos.
Wie passt die Entwicklung zu mehr Meaning zur ansonsten ebenso immer öfter hörbaren Forderung nach mehr Meßbarkeit und effektiven ROI?
Zunächst einmal: Ich schenke der geläufigen Formel, dass man nur das managen kann, was man messen kann, keinen Glauben. Im Gegenteil: Die besten Manager sind Experten im Managen des Nicht-Messbaren. Um es noch etwas mehr zuzuspitzen: ROI ist eine Schimäre und in der Regel ein Alibi, um Chefs zufriedenzustellen. Wer keine Ideen und keine Vision hat, der hat eben Zahlen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht grundsätzlich gegen die Quantifizierung der Wirkung von Marketing-Programmen. Aber nur, wenn man im Hinterkopf behält, dass diese Zahlen immer nur eine Annäherung dastellen, eine Interpretation, aber niemals eine objektive Wahrheit. Der ROI bleibt zwangsläufig oft “intangible” (Anm. d. Red.: immateriell). Wobei selbst der Sprachgebrauch zweifelhaft ist. Dass die vermeintlichen “tangible assets” (Anm. d. Red.: materielle Vermögenswerte) unter Umständen wesentlich volatiler sind als die “intangibles” hat die jüngste Finanzkrise ja nachdrücklich bewiesen. (Sie hat uns auch daran erinnert, dass ein Grossteil der Buchhaltungswerte eines Unternehmens sich als vollkommen virtuell herausstellen kann.)
Das schöne deutsche Wort der “Wertschätzung” wird immer noch unterschätzt im Vergleich zu den sogenannten “harten” Metrics wie Leads, Funnel Contribution oder Revenue Contribution. Goodwill, Reputation, Customer Lifetime Value (der Wert eines einzelnen Kunden über den gesamten Zeitraum der Kundenbeziehung), soziales Kapital oder “organizational capital” (wie es der US-Finanztheoretiker Baruch Lev nennt) – diese Werte sind meiner Meinung nach wesentlich aussagekräftiger, wenn auch ebenso schwer präzise zu messen.
Hinzu kommt, dass die meisten ROI Messungen meist kurzfristig gedacht und allein auf das Quartalsergebnis oder die unmittelbare Wirkung von Marketingaktivitäten bezogen sind. Aber das Quartal (und wie überhaupt der gesamte übliche Budgetrahmen von einem Jahr) sind recht willkürliche Planungseinheiten, die nur selten mit der Realität eines Unternehmens übereinstimmen. Der Markt steht niemals still, Kunden denken und handeln in unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven, und die Investition in Marken, in die Beziehung zu Kunden, in intellektuelle und emotionale Erfahrungen, lässt sich nur schwer formal erfassen. Jeder Marketer, der erklärt, genau zu wissen, mit welchem Effekt er wo investiert, lügt. Der ROI von Marketing ist letztlich immer eine Scheinkalkulation.
Und dennoch machen die meisten Marketingleute das Spiel mit – weil sie durch die Machtkonventionen in ihren Unternehmen dazu gezwungen werden und glauben, sonst ihr Mitspracherecht bei strategischen Entscheidungen zu verlieren. Wer Zahlen hat, gewinnt.
Ich bin mir sicher, dass viele Marketingabteilungen 50% ihrer Zeit damit verbringen, ihre Programme zu evaluieren und ROI Reports für das Management-Team zu erstellen. Stellen Sie sich vor, wie viel mehr sie erreichen würden, wenn sie auch nur die Hälfte dieser Zeit nicht für Reporting, sondern für kreative Marketing-Aktivitäten aufbrächten! Wie viel mehr Bedeutung könnten sie produzieren, wie viel neue Kunden könnten sie schaffen und wie viele existierende Kundenbeziehungen stärken? Ich kenne viele Kollegen, die gezwungen werden, detaillierte ROI Analysen zu erstellen, bevor sie überhaupt Geld ausgeben können – aber dann ist es meistens schon zu spät. Im Zeitalter des Social Web hat das Marketing keine Zeit mehr für ausgiebige Planung – alles was passiert, passiert jetzt. Just do it! Der Marketing-Mix ändert sich jeden Tag. Das einzig konstante sind Experimente – und die Werte, die sich in langfristigen Beziehungen zu Kunden und Öffentlichkeit ausdrücken.
Ein letzter Gedanke noch: Trotz des ganzen Hypes um Big Data und die totale, Echtzeit-nahe Erfassung und Analyse von Kundendaten, sollte man nicht vergessen, dass Daten immer nur reaktives Verhalten ermöglichen; selbst die datenbasierte Zukunftsplanung ist eine Reaktion. Statt auf Big Data setze ich auf Big Intuition! Wer wirklich innovativ sein will und etwas verändern will, vertraut seiner Intuition. Die ist nämlich schneller als alle Daten. Paradoxerweise gilt in der Wissensgesellschaft: Intuition sticht Wissen aus. Chief Meaning Officers wissen das. Sie erahnen Trends, bevor diese messbar werden, vertrauen ihrem (Mit)Gefühl und machen somit den Unterschied aus, der dann in ein echtes Differenzierungsmerkmal mündet. Wer nur Daten analysiert, ahmt das Bestehende nach. Wer selbstbewusst genug ist, um Daten zu ignorieren, kann Verhalten beeinflussen und tatsächlich etwas Neues schaffen. Henry Ford hatte Recht: ‚Wenn ich auf meine Kunden gehört hätte, hätte ich schnellere Pferde produziert‘. Daten helfen uns zu verstehen, wie die Welt ist; Innovatoren und Visionäre aber (und Chief Meaning Officers sind beides!) sehen die Welt, wie sie nicht ist.